Lucia Kempkes & Ossian Fraser
Mount Analogue
29. Juni – 6. September 2020

Arnsberg in den Alpen? In einer Zeit, in der sich das Träumen als essentielle Lebensstrategie erweist, lädt die Duo-Ausstellung Mount Analogue zum Gedankenspiel und zur imaginären Reise. Zu sehen sind Arbeiten von Lucia Kempkes und Ossian Fraser, die unabhängig voneinander entstanden sind und doch eines gemeinsam haben: Sie konzentrieren sich auf den Berg, den Entdecker und Romantiker zur Metapher für Freiheit und Abenteuer, für innige Natur-, Welt- und vor allem Selbsterfahrung stilisierten.

 

Anlass, die Beziehung zwischen Mensch und Gebirge zu betrachten, gab eine Schlagzeile aus dem vergangenen Dezember: „Bergsteigen ist Kulturerbe!“ Nach Jahrhunderten ist der Alpinismus in die UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen worden. Damit wurde eine lange Tradition gewürdigt: Die großen Entdecker vertrieben die Götter von den Gipfeln. Im Namen der Wissenschaft nahmen Forscher ihre Plätze ein. Im Einklang mit bahnbrechenden Erkenntnissen über Geschichte der Erde, überkam die Menschheit der Höhenrausch. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zieht es nicht nur Gelehrte, Künstler und Poeten ins Gebirge. 

 

Gipfel lassen sich jedoch auch im Geist erklimmen. Zur literarischen Allegorie einer solchen fiktiven Reise ist die titelgebende Erzählung Mount Analogue (1952) des französischen Schriftstellers René Daumal geworden. Darin verselbständigt sich ein Gedankenspiel. In einem Fachjournal hatte der Protagonist spaßhaft von einer angeblich wissenschaftlichen Entdeckung berichtet: Der Existenz eines Berges, der Kosmos und Erde verbindet, dem Mount Analogue. Ohne die Natur seiner These aufzulösen, begibt er sich alsbald mit glühenden Anhängern auf die Suche. Der Berg wird gefunden, doch die Geschichte endet nach den ersten Etappen des Aufstiegs im Ungewissen. Das Manuskript bricht unvermittelt und mitten im Satz ab. Der Autor sollte es nie fertigstellen. Daumal führt auf der Erzählebene vor wie Realität und Fiktion verschwimmen. Sein Mount Analogue wird zur Analogie, zum Gleichnis für die Kraft von Visionen und Sehnsüchten. Es ist ein Sujet, das sich auch in den Arbeiten von Lucia Kempkes und Ossian Fraser findet.

 

Seit mehreren Jahren widmet sich Lucia Kempkes dem emotionalen Verhältnis von Mensch und Natur. Die aus Nordrhein-Westfalen stammende Künstlerin konzentriert sich dabei insbesondere auf das Gebirge. In ihrer Werkreihe I Wish I Could Climb verwebt sie die gegensätzlichen Sphären, die das Leben von Bergsteigern bestimmen: Das traute Heim und den einsamen Gipfel. In einen Teppich, der häusliche Gemütlichkeit bedeutet, ist das stereotype Bild eines Berges einrasiert. Im Gegenzug wird der Blick des Bergsteigers, der sich – wie Kempkes amüsiert bemerkt – hauptsächlich auf den Boden und seltener auf das Panorama richtet, mit weicher Wolle durchknüpft. Der Kontrast verstärkt sich im Werkzyklus To Protect Us From What We Seek, in dem die stetige Entwicklung von Hightech-Materialien und Hilfsmitteln zur Überwindung menschlicher Grenzen thematisiert wird. Da finden sich Schlafsack und Isomatte aus Papier – leere Hüllen, die zur unbeschriebenen Verpackung von Sehnsüchten werden. Bergpanoramen, mit denen auf Social Media und in der Werbung das ultimative Naturerlebnis proklamiert wird, werden mit grober Geste und dem Photoshop-Radierer von menschlichen Spuren, Zelten und Backpackern befreit. In ihre Zeichnungen übernimmt Kempkes lediglich die unangetastete Natur samt der Leerstellen. Ihr aktuelles Projekt verbindet das Atlasgebirge und die Alpen: In Stoffbahnen zerlegte Schweizer Gleitschirme werden nach ihren Entwürfen zu Berber-Teppichen verwebt. Wie maßgebend ihre Arbeiten bei alldem durch die digitale Bildkultur beeinflusst sind, zeigt schließlich die Collage auf der Einladung: Zu sehen ist der Arnsberger Neumarkt vor den Alpen. Wasserzeichen deuten den generischen Charakter des Bergpanoramas an. Vielleicht erscheint diese Perspektive gerade weil sie sich bereits ins kollektive Bildgedächtnis eingeprägt hat, so erstaunlich stimmig. 

 

Während sich Kempkes voll und ganz dem Berg als Metapher widmet, sind die Arbeiten von Ossian Fraser zum Großteil tatsächlich im Gebirge entstanden. Im Juli 2019 verbrachte der Künstler im Rahmen einer Residency zwei Wochen auf der 1927 erbauten Cabane de l’A Neuve in den Schweizer Alpen. Der Aufstieg zu der auf 2.735 m gelegenen Hütte erfolgt zu Fuß. Für die Entwicklung neuer Arbeiten stehen dort lediglich das im Rucksack mitgeführte Equipment und die Natur zur Verfügung. Diese Einschränkung kam Frasers künstlerischer Praxis durchaus entgegen: Feinsinnig bespielt der Künstler oft unscheinbare Orte im Stadtraum oder der Natur. Mit der Kamera und künstlerischen Interventionen erzeugt er dabei einen Dialog zwischen Architektur, Skulptur und Fotografie, der die räumliche Präsenz der beiläufigen Situationen um ein Vielfaches potenziert. So erscheinen Pfade am Berghang als Landschaftszeichnungen, ein quadratischer Landeplatz für Hubschrauber wird zum Sockel für einen Schneekubus, eine Felswand zum Bildträger, die Cabane de l’A Neuve und das Klohäuschen werden von einer Corona gekrönt. Geometrische Figuren – Kreis und Quadrat – kontrastieren dabei die Formenvielfalt der Natur. Schließlich spiegelt sich in Frasers Fotoarbeiten auch, was den Menschen in die Berge treibt: das innige Naturerlebnis. Sei es das Gewitter über den Gipfeln, die gekrümmte Atmosphäre der Erde, die durch den Lauf der Sterne nachgezeichnet wird, oder der Nebel, der selbst über 4000 m hohe Gipfel verschwinden lässt. Es sind Erfahrungen des Sublimen, die Frasers Schaffen nachdrücklich beeinflussen. Auch er beginnt, den Symbolcharakter und die stereotype Darstellung von Bergen zu untersuchen. Eines, der wohl bekanntesten Piktogramme dient als Vorlage für seine Installation im Garten des Kunstvereins: das Berg-Emoji.

 

Kempkes und Fraser zeigen, dass der Berg als Metapher wie ihn die Romantiker prägten noch heute in den Köpfen und Wohnzimmern lebt. Dass er als solche auch gebraucht wird, führt die aktuelle und weltweite Ausnahmesituation eindrücklich vor Augen.

 

Lydia Korndörfer

 

 

Lucia Kempkes, I Wish I Could Climb, 2020 © Die Künstlerin